Das Staunen - Der Blick durchs transformative Schlüsselloch

 

Das Staunen ist ein Zustand, dem wir uns nur mit einer gewissen Ambivalenz hingeben. Einerseits begeben wir uns gezielt in Situationen, von denen wir wissen, dass wir dort zum Staunen gebracht werden. Das sind vor allem Bereiche des Spektakulären, der Show, des Entertainments, wie Zirkus, Zaubervorstellungen, besondere Naturperspektiven auf Reisen, Kino, Theater, Rummelplatz usw. Das angenehme an solchen Events ist, dass das Staunen im selbst gewählten und dadurch zumeist geschützten Rahmen stattfindet und somit einen mentalen Genuss darstellt. Dem Thrill eines Horrorfilms setzen wir uns sogar mehrfach aus, ohne dabei wirklich mit bleibender Wirkung erschüttert zu werden oder in eine besondere Krise zu geraten.

 

Im Gegensatz dazu gilt uns das Staunen, welches uns ohne Kontrolle zustößt, als äußerst suspekt, denn es bedeutet Irritation, Destabilisierung, und im schlimmsten Fall Angst und Schrecken oder gar objektive Gefahr. (Wir nehmen hier einmal die positive Überraschung aus, die ebenfalls zumeist im geschützten Rahmen stattfindet, oder sofort als gefahrlos erkennbar ist.)

 

Was aber ist mit nicht selbst gewählten plötzlichen Ereignissen, die uns zustoßen und den gewohnten Lauf der Dinge unterbrechen, ohne, dass wir die Macht haben, damit umzugehen, bei denen uns die praktische Erfahrung fehlt, und welche sich unserer Kontrolle entziehen? Die Antwort ist dreierlei: 1.) Wir erleiden einen Verlust der Selbstwirksamkeitserfahrung. 2.) Dies empfinden wir als äußerst unangenehm. 3.) Und deshalb wollen wir die Selbstwirksamkeit so schnell wie möglich wiedererlangen.

 

Der erste Punkt, ist zunächst einmal das Faktum der Irritiertheit. Der zweite Punkt ist die gefühlte Bewertung, die aus dem Selbstbild resultiert, dass wir die Dinge (normalerweise) im Griff haben. Dies stellt den Verlust des positiven Selbstbildes dar, welches an die Macht gekoppelt ist, Realität zu gestalten. Der dritte Punkt ist der daraus resultierende Reflex der Rückgewinnung von Selbstwirksamkeit, der Auflösung des als unangenehm empfundenen Zustands. Der Drang zurück zu einer vorherigen Normalität ist hierbei stets überwiegend.

 

Bis hierher kann man all das noch locker sehen, denn in zivilisierten Gegenden, sind die genannten Verlusterfahrungen, was ihren objektiven Gefahrencharakter angeht, sehr reduziert, z.B. auf Unfälle, unheilbare Krankheiten und eine - trotz noch immer beklagenswerter Gewaltstatistik - vergleichsweise geringe Gewalterfahrung. Aber unsere mentale Verfasstheit reagiert auch schon auf weniger gefährliche Irritationen, wie z.B. den Verlust des Arbeitsplatzes, die Trennung von einem Partner oder ähnliches. Die Gefahr kann in Situationen der Irritation subjektiv als äußerst erheblich wahrgenommen werden und damit auch von quasi todesangstäquivalenten Zuständen begleitet werden, auch wenn die Umstände von außen betrachtet, nicht ganz so bedrohlich sind.

 

Bis hierher war nur von äußerlich induziertem Staunen die Rede. Aber es gibt noch eine Form des Staunens, die wir als ebenso existenziell und darüber hinaus als mysteriös erfahren: Das grundlose Staunen. Es ist ein Ereignis, welches nicht, zumindest nicht eindeutig, mit äußeren Umständen erklärbar ist. Es kann nicht schlüssig im Sinne eines Ursache-Wirkungs-Verhältnisses erklärt werden. Es stößt uns zu, aber es kommt aus uns selbst. Es ist die Konfrontation mit einer unbekannten Seite unserer selbst, nicht äußerlich induziert. Es bricht nicht selten langsam in unser normales Leben ein, wie eine Urkraft. Es ist ebenso Erfahrung des vorübergehenden Selbstverlustes wie potenzielle Produktivkraft zugleich. Dieses Staunen ist so autonom, dass es uns wie ein fremde Macht erscheint. Eine der schönsten Erklärungen dieses Staunens, finden wir in einem Roman, den es nicht gibt. Der Roman trägt den Titel "Um Ourives das Palavras", aus dem Portugiesischen übersetzt: "Ein Goldschmied der Worte", und wurde von dem ebenfalls nicht existenten portugiesischen Autor Amadeu Inácio de Almeida Prado im Jahr nach der Nelkenrevolution in Lissabon 1975 nicht veröffentlicht:

 

„Es ist ein Irrtum zu glauben, die entscheidenden Momente eines Lebens, in denen sich seine gewohnte Richtung für immer ändert, müßten von lauter und greller Dramatik sein, unterspült von heftigen inneren Aufwallungen. Das ist ein kitschiges Märchen, das saufende Journalisten, blitzlichtsüchtige Filmemacher und Schriftsteller, in deren Köpfen es aussieht wie in einem Boulevardblatt, in die Welt gesetzt haben. In Wahrheit ist die Dramatik einer lebensbestimmenden Erfahrung oft von unglaublich leiser Art. Sie ist dem Knall, der Stichflamme und dem Vulkanausbruch so wenig verwandt, daß die Erfahrung im Augenblick, wo sie gemacht wird, oft gar nicht bemerkt wird. Wenn sie ihre revolutionäre Wirkung entfaltet und dafür sorgt, daß ein Leben in ein ganz neues Licht getaucht wird und eine vollkommen neue Melodie bekommt, so tut sie das lautlos, und in dieser wundervollen Lautlosigkeit liegt ein besonderer Adel.“ (Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon, München Hanser 2004 (13/2006), S. 51 f.)

 

Dieser in unserer Kultur nur unzulänglich kultivierte, nahezu meditative Augenblick ist es auch, in dem wir mit etwas Glück unser gesamtes Selbst- und Weltverhältnis zu transformieren lernen. Dies stellt eine Schwelle dar, die von unserer Erziehung, unserer Schulbildung und unseren Universitäten, aber auch von Religionen streng bewacht wird, indem man diesem Staunen die Zügel anlegt oder durch billige Erklärungen kognitionspsychologischer oder religiöser Art jegliche eigene Würde nimmt. Das autonome Staunen wird in den seltensten Fällen und nur unter dem Schutz pädagogisch sehr liberaler Menschen gewürdigt und in seiner biografischen Relevanz erkannt und gefördert. Ansonsten kennen wir es nur in der Instrumentalisierung für andere, vermeintlich höhere Zwecke des Fortschritts, der Innovation, der Offenbarung oder wie die Ziele auch immer benannt werden mögen. Das staunende Individuum als Selbstzweck hat in der Welt unserer beschränkten Fortschrittsbegriffe kein Bürgerrecht.

 

Transformatives Lernen hingegen fördert den Umgang mit dieser Irritation. Das erste Lernziel dabei ist Irritationskompetenz. Der individuelle Umgang mit dem Staunen als Irritation ist zugleich ein erster Blick in das Wesen des transformativen Lernens.